„Stadt der Ideen – Als Wien die moderne Welt erfand“ hieß das 2024 erschienene Buch, in dem der Journalist Richard Cockett die Strahlkraft der wirtschaftlichen und intellektuellen Pioniere der Donaumetropole im 20. Jahrhundert neu durchmaß.Um Fotografie geht es in dem Buch eher nicht. Und doch sollte die Fotografin Lisette Model (1901–1983), der die Albertina nun bis 22. Februar eine präzise und reichhaltige Ausstellung widmet, in der Reihe der dort porträtierten Lichtgestalten stehen. Denn auch wenn Models unglaublich prägnante, oft an der Grenze zur Karikatur tänzelnde Bilder nie in Österreich entstanden, sondern Szenen in Nizza, New York oder San Francisco einfingen, gibt es viele Verbindungen zu Wien: Hier wuchs die als Elise Amélie Félicie Stern in eine wohlhabende Familie geborene Künstlerin auf.Wienerin in New YorkEine Neuentdeckung ist Model, die 1926 nach Frankreich und 1938 in die USA emigrierte, in Wien nicht: Die Gründungschefin der Albertina-Fotosammlung, Monika Faber, hatte ihr bereits 2000 (noch in der Kunsthalle Wien) eine Ausstellung ausgerichtet und früh Bilder für die Albertina erworben. Die nun gezeigte Ausstellung baut viele der damals geschlagenen Pfade aus. Doch zunächst zeigt sie einfach kolossale Bilder.Als die Europäerin im New York der 1930er-Jahre ankam, fotografierte dort kaum jemand so direkt, so frech, so bissig wie sie : In vielem, was man später „Street Photography“ nannte, war Lisette Model ihrer Zeit voraus. Ihr Gesellenstück hatte sie 1934 in Nizza geliefert: An der Promenade des Anglais lichtete die Wienerin saturierte Urlauber nicht gerade schmeichelhaft ab.ALBERTINA, WienDie Serie empfängt auch das Publikum in der Albertina. In einer Vitrine ist dazu die Doppelseite der linken Illustrierten Regards zu sehen, in der die Bilder 1935 erstmals erschienen. „Langeweile, Herablassung, impertinente Dummheit, bisweilen Brutalität ist diesen Gesichtern aufgemalen“, heißt es im Text dazu, den reichen Urlaubern ist eine Bettlerin gegenübergestellt. Das Publikum wusste also, wie es die grotesken Fotos zu deuten hatte.Politisch motiviert?Inwieweit Model, selbst Tochter aus bürgerlichem Hause, ihre Fotos als Instrumente des Klassenkampfs sah, ist eine wiederkehrende Frage, auf die die Schau keine eindeutige Antwort gibt. „Sie hinterließ keine verlässlichen Kommentare dazu, und später, in einer Atmosphäre antisowjetischer Hexenjagden, tat sie alles, um dies zu vergessen“, schreibt der Autor Duncan Forbes im Katalog.Belegt ist, dass Model u. a. bei der linken „Photo League“ ausstellte – und deshalb 1954 vom FBI ins Verhör genommen wurde. Danach brachen Aufträge weg, ein geplantes Buch mit Fotos von Jazzmusikern wurde nie realisiert.ALBERTINA, WienDie Bilderserien, die die Albertina entlang eines gut strukturierten Parcours präsentiert, sind allerdings nie vordergründig agitatorisch. Bewegend sind sie sehr wohl – nicht zuletzt wegen Models vieler Tricks, mit denen sie die Spontaneität der häufig in Bars und Clubs eingefangenen Szenen nachträglich noch zu steigern wusste.Meisterin der DynamikDass etwa die Bilder stets ein wenig kippen und unscharfe, angeschnittene Figuren im Vordergrund extrem mit scharf konturierten Personen und Details im Hintergrund in Kontrast treten, war oft das Ergebnis von Models Nachbearbeitung: Sie zögerte nicht, ungewöhnliche Bildausschnitte zu wählen, wie Gegenüberstellungen in der Schau deutlich machen. Dazu kommen Verdopplungen, Spiegelungen, Umkehrungen.ALBERTINA, WienVerbindungen zur Musik und zu Models Wiener Prägung sind hier nicht weit hergeholt: Die Fotografin wollte zuerst Musikerin werden, sie studierte etwa bei Arnold Schönberg Harmonielehre, als dieser an der Schule der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald unterrichtete.Model selbst betonte diese Verbindungen noch, als sie längst in New York lebte und Jazzgrößen fotografierte. Das wohl bewegendste Foto dieser Zeit hängt am Ende der Schau und ist ganz still: Es zeigt die Sängerin Billie Holiday, für die Totenwache aufgebahrt am 21. Juli 1959.
Thursday 30 October 2025
kurier.at - 12 hours ago
